Jeder vierte Journalist tut es, manche gleich mehrmals täglich: Das Verfassen von Artikeln über das Chatten ist längst vom Nischenspaß für picklige Praktikanten zum Volkssport avanciert. Es wird Zeit, dass ich mir selbst einen Einblick in diese fremde, kulturpessimistische Welt verschaffe. Schnell ein paar Zeitungen am Kiosk gekauft, nach Hause getragen, aufgeschlagen, und dann ist es so weit. Ich bin drin.
Erst mal verstehe ich natürlich gar nichts. Ein nicht enden wollender Strom scheinbar sinnlosen Gestammels quillt über die Seiten der Medienrubriken. Ein Kosmos voller Wortfetzen, merkwürdiger Metaphern und geheimnisvoller Anspielungen, der auf Neulinge wie mich zuerst einmal außerirdisch wirkt. Die Überschriften durchsetzt von sinnlosen @-Zeichen: "Im Netz gef@ngen" heißt es da, "Generation @" und "Chatten, bis der @rzt kommt". Chat-Artikel-Schreiber haben ihre eigene Sprache.
Die Herren tragen charmante Namen wie "Thomas Tuma", "Hardy Prothmann" oder "Pampuch". Die Damen, wenn es überhaupt welche sind, nennen sich "Jutta Heess" oder "Kerstin Hoffmann". Nichts ist leichter, als sich im Journo-Space eine neue Identität zuzulegen. In seinen Texten kann man sich schöner und intelligenter darstellen, als man in Wirklichkeit ist. Und in Wirklichkeit sind Journalisten oft die einsamsten Menschen der Welt.
Wird jemand einsam, weil er schreibt? Schreibt er, weil er einsam ist? Oder ist das alles Quatsch? Warum werden Menschen überhaupt zu Journalisten? Aus Langeweile? Weil sie so auf der Buchmesse schneller Freunde finden? Weil sie sich zur Arbeit nicht fein machen müssen?
Dabei scheint das Leben der Schreib-Freaks für Outsider keineswegs erstrebenswert. In lichtlosen Großraumbüros wird tage- und nächtelang geschrieben, redigiert - und oft genug auch einfach frei erfunden. "Recherche?", fragt Chat-Artikel-Experte Alexander F. müde. "Dazu komm ich schon lange nicht mehr." Die meiste Zeit verbringen die Cyber-Schreiber mit der Produktion immer neuer Chat-Reportagen.
Bezahlt wird das Geschäft mit den Chat-Artikeln nur schlecht, viele Autoren sind hoch verschuldet. "Oft kostet mich die Abnutzung des Bleistifts, mit dem ich eine Glosse über das Chatten zu Papier bringe, mehr, als ich dann für den fertigen Text bekomme", gibt Alexander F. zu. "Meine Freundin droht, mich zu verlassen, wenn ich nicht wenigstens ab und zu mal über Wirtschaftskriminalität oder Sport schreibe. Aber das wäre einfach nicht dasselbe. Und die Leser verlangen den Stoff ja auch!" Aber die Leser sind in diesem perfiden Spiel selbst nur Opfer: "Solche Artikel sehen auf den ersten Blick wahnsinnig informativ aus, in Wahrheit enthalten sie überhaupt keine echten Informationen", weiß Medienkriminologe Herrmann Genista.
Nach einer Untersuchung der Berliner Humboldt-Universität sind in Deutschland bereits rund 650.000 Journalisten Chat-Artikel-süchtig. "Sucht, was heißt schon Sucht", sagt Alexander und streicht sich fahrig das schüttere Haar aus der Stirn. Aber so richtig überzeugt klingt auch er nicht.
KATHRIN PASSIG
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